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Wohnsi­tuation einkom­mens­schwacher Haushalte in der Schweiz

Letzte Aktualisierung: 15. Mai 2025

Wüest Partner versteht es als Teil seiner Aufgabe, die nachhaltige Wertschöpfung in der Immobi­li­en­branche ganzheitlich voran­zu­treiben. Weil die soziale Nachhal­tigkeit derzeit erst ansatz­weise und wenig struk­tu­riert in die Diskussion einfliesst, setzt sich Wüest Partner dafür ein, Akteur:innen konkrete Grund­lagen zu vermitteln. In mehreren Beiträgen beleuchten wir das Thema der sozialen Nachhal­tigkeit aus verschie­denen Blick­winkeln. Dies ist das erste Interview, das mit Isabelle Lüthi von der Caritas Zürich geführt wurde.

Wüest Partner sprach im Oktober 2024 mit Isabelle Lüthi, Projekt­lei­terin Grund­lagen und Sozial­po­litik bei der Caritas Zürich, über die zuneh­menden Schwie­rig­keiten, bezahl­baren Wohnraum zu finden – insbe­sondere für Menschen mit niedrigem Einkommen. Im Gespräch beleuchtet Isabelle Lüthi die aktuelle Lage auf dem Schweizer Wohnungs­markt und disku­tiert, welche Hinder­nisse armuts­ge­fährdete Menschen bei der Wohnungs­suche überwinden müssen. Sie teilt ihre Erfah­rungen aus der Beratungs­arbeit der Caritas Zürich und spricht über Lösungs­an­sätze, die den Zugang zu Wohnraum verbessern könnten.

Isabelle, vielen Dank dafür, dass du dir Zeit für das Gespräch nimmst. Wie würdest du die aktuelle Wohnsi­tuation für einkom­mens­schwache Haushalte beschreiben?

Ich würde sagen, dass das Leben für Menschen mit knappen Budgets deutlich schwie­riger geworden ist. Besonders das Wohnen wird immer kostspie­liger, da die Mieten und Energie­preise steigen. Hinzu kommen die gestie­genen Kranken­kas­sen­prämien und Lebens­mit­tel­preise. Dieser Druck trifft einkom­mens­schwache Haushalte besonders hart. Bei ihnen machen Wohnen und Energie­kosten den grössten Teil der Ausgaben aus – fast ein Drittel des Einkommens fliesst in die Miete. Uns begegnen in Einzel­fällen auch Personen, die sogar 50% oder mehr für die Miete bezahlen.

Aber das Problem ist nicht nur finan­zi­eller Natur: Es ist oft schwierig, überhaupt eine bezahlbare Wohnung zu finden, die gross genug ist für eine Familie, nicht von Lärm oder Schimmel betroffen ist. Gerade in städti­schen Gebieten ist der Leerstand sehr gering.

Hat sich die Situation in den letzten Jahren verschärft? Was sind die Treiber für diese Verschärfung?

Ja, definitiv. Einer der Haupt­gründe ist die Teuerung. Die Preise für Güter des täglichen Bedarfs sind gestiegen, genauso wie die Kranken­kas­sen­prämien. Erst kürzlich wurde wieder angekündigt, dass die Prämien im Jahr 2025 weiter steigen werden. Dazu kommen die Mieten: In der Stadt Zürich sind die Angebots­mieten allein 2023 um 11 % gestiegen. Für Menschen mit wenig Geld und geringen Erspar­nissen bedeutet das, dass sie kaum noch die Möglichkeit haben zu sparen. Ein grosser Teil ihres Einkommens geht für Miete und den täglichen Bedarf drauf.

Du hast auch erwähnt, dass es schwierig ist, überhaupt angemessene Wohnungen zu finden. Welche Hürden stehen einkom­mens­schwachen Menschen bei der Wohnungs­suche konkret im Weg?

Die Probleme sind leider sehr vielfältig. Zum einen gibt es sehr wenige ausge­schriebene Wohnungen, und oft sind die Inserate nur kurzfristig ausge­schrieben. Für Menschen, die keinen ständigen Zugang zum Internet haben, Schicht­arbeit durch­führen oder digital nicht so versiert sind, ist das ein riesiges Problem. Die Wohnungs­suche wird für diese Personen automa­tisch viel schwie­riger. Zudem sind viele Wohnungen, die verfügbar sind, schlicht zu teuer – und zwar nicht ein bisschen zu teuer, sondern massiv zu teuer.

Was wir auch oft beobachten, ist dass Menschen mit geringen Einkommen, Migrant:innen oder Allein­er­zie­hende oft aus städti­schen Gebieten verdrängt werden – gerade aufgrund der Aufwertung einzelner Stadt­ge­biete. Das hat weitrei­chende Folgen: Sie verlieren ihr soziales Umfeld und manchmal auch den Anspruch auf Sozial­leis­tungen, die es in Städten wie Zürich gibt, aber in kleineren Gemeinden nicht.

Dazu kommen weitere Heraus­for­de­rungen: Oft gibt es in den Randge­bieten schlechtere Anbin­dungen an den öffent­lichen Verkehr, was es schwie­riger macht, soziale Kontakte zu pflegen. Kinder werden aus ihrem bekannten Umfeld gerissen und müssen beispiels­weise die Schule wechseln, was zu zusätz­lichen Belas­tungen führt. Die Verein­barkeit von Beruf und Familie wird erschwert, wenn es weniger oder keine bezahl­baren Betreu­ungs­plätze gibt. Das alles führt zu einem erhöhten organi­sa­to­ri­schen Aufwand für betroffene Familien.

Eine weitere grosse Hürde ist das Hinter­legen einer Mietkaution. Man muss bedenken, dass ein Fünftel der Schweizer Bevöl­kerung nicht in der Lage ist, eine unerwartete Ausgabe von 2’500 Franken zu bewäl­tigen. Eine Mietkaution oder die Anteils­scheine für eine Genos­sen­schaft können daher eine enorme Heraus­for­derung darstellen.

Du hast erwähnt, dass Sozial­leis­tungen nicht überall gleich sind. Kannst du ein Beispiel dafür nennen, wie sich ein Umzug auf diese Leistungen auswirken kann?

Ein aktuelles Beispiel ist die Energie­kos­ten­zulage in der Stadt Zürich. Diese Unter­stützung wurde einge­führt, weil die Energie­kosten stark gestiegen sind. Sie wird an Menschen gezahlt, die Anspruch auf eine Prämi­en­ver­bil­ligung der Kranken­kasse haben – aller­dings nur, wenn sie in der Stadt Zürich wohnen. Zieht man in eine Nachbar­ge­meinde, verliert man diesen Zuschuss. (Anmerkung: Die Energie­kos­ten­zulage wurde 2023 und 2024 an einkom­mens­schwache Zürcher Haushalte ausge­zahlt.)

Gibt es Zahlen dazu, wie die Schweiz im inter­na­tio­nalen Vergleich dasteht?

Die Wohnungsnot und die Zuspitzung der Lage von armuts­ge­fähr­deten Haushalten sind per se kein Schweizer Problem, sondern ein globales Phänomen: Besonders grosse, finanz­starke Metro­polen wie Zürich, San Francisco oder Frankfurt sind davon betroffen.

Welche Massnahmen könnten helfen, die soziale Durch­mi­schung in Städten zu fördern?

Soziale Durch­mi­schung und Vielfalt sind in urbanen Zentren sehr wichtig, damit einzelne Orte nicht exklusiv werden für bestimmte Gruppen von Menschen. Eine wichtige Massnahme ist sicher­zu­stellen, dass es in allen Quartieren bezahlbare Angebote – also Wohnraum zur Kosten­miete – gibt. Die Bedeutung von gemein­de­ei­genem Wohnraum ist dabei zentral. Es ist sinnvoll, dass Gemeinden eigene Wohnan­gebote schaffen und Kriterien für die Zuweisung festlegen können. Auch sollte der Wohnungsbau nicht nur rendi­te­ori­en­tiert, sondern sozial gedacht werden: Im Moment beobachten wir, dass immer mehr kleinere Wohnungen gebaut werden. So kann natürlich keine Durch­mi­schung von kleineren Haushalten und Familien gewähr­leistet werden, wenn es weniger Wohnraum für Familien gibt.

Welche konkreten Massnahmen können Immobilieneigentümer:innen oder Verwal­tungen ergreifen, um einkom­mens­schwachen Haushalten den Zugang zu bezahl­barem Wohnraum zu erleichtern?

Ich denke, es ist zunächst wichtig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass es Menschen gibt, die bei der Wohnungs­suche nur wenig Spielraum haben – sowohl finan­ziell als auch zeitlich. Dabei ist sehr wichtig, das Vermie­tungs­tempo zu senken. In unserer Beratung sehen wir oft, dass Menschen überfordert sind, weil Wohnungs­in­serate nur sehr kurz online sind und es nur wenige Besich­ti­gungs­termine gibt. Für Menschen, die vielleicht zwei Jobs haben, drei Kinder betreuen und einen ohnehin stres­sigen Alltag bewäl­tigen müssen, ist das eine enorme Heraus­for­derung. Das Bewer­bungs­ver­fahren sollte verständlich, unkom­pli­ziert und zeitlich so angelegt sein, dass die Menschen genug Spielraum haben, um sich zu bewerben.

Ebenso ist es entscheidend, Mieterhö­hungen nicht unbegründet vorzu­nehmen und die Folgen für die Mieter:innen zu bedenken. Sanie­rungen sollten mit Bedacht durch­ge­führt werden, um Leerkün­di­gungen zu vermeiden. Wir beobachten häufig, dass Menschen aus ihren Wohnungen gekündigt werden, weil renoviert werden soll und sie dann keinen Platz mehr haben.

Gibt es Erfolgs­ge­schichten oder konkrete positive Beispiele, wo solche Massnahmen bereits erfolg­reich umgesetzt wurden?

Mir sind leider nur sehr wenige bekannt. Es gibt Solida­ri­täts­fonds bei Genos­sen­schaften, die Menschen mit geringem Einkommen zugute­kommen. Diese bieten eine gewisse finan­zielle Unter­stützung. Ausserdem gibt es Ansätze wie den Zufalls­ge­nerator bei der Stadt Zürich: Wenn man sich für eine städtische Wohnung bewirbt, entscheidet ein Zufalls­ver­fahren, wer einge­laden wird. Das soll mehr Fairness bringen, weil es allen die gleiche Chance gibt, obwohl natürlich nicht alle die gleiche Dring­lichkeit bei der Wohnungs­suche haben.

Ein weiteres positives Beispiel ist, dass zunehmend versucht wird, Wohnungs­tausch­mög­lich­keiten zu fördern – zum Beispiel über Platt­formen. Wenn eine Familie eine grössere Wohnung sucht und eine Einzel­person eine kleinere, dann kann eine Plattform die Kommu­ni­kation zwischen den Suchenden ermög­lichen und so den Tausch­prozess erleichtern.

Gibt es derzeit neue Platt­formen oder Angebote, die solche Programme unter­stützen?

Es gibt einige Initia­tiven, wie zum Beispiel ein Projekt von der ehema­ligen Credit Suisse (neu UBS), bei dem innerhalb ihres Immobi­li­en­port­folios ein Wohnungs­tausch ermög­licht wird. Auch die Stadt Lausanne bietet solche Möglich­keiten an. Schön wäre, wenn es mehr von solchen innova­tiven, kreativen Ansätzen gäbe.

Es gab hier einmal einen Vorstoss der Grünen Partei, der einen Wohnungs­tausch ohne Mieterhöhung vorsah. Besonders inter­essant finde ich die Idee, dass insti­tu­tio­nelle Eigentümer:innen oder Banken einen Tausch innerhalb ihres Portfolios ermög­lichen. Das bietet viel Potenzial, um den verfüg­baren Wohnraum besser zu nutzen. Überbe­legung ist aus sozialer Sicht proble­ma­tisch, aber auch Unter­be­legung ist aus ökolo­gi­scher Perspektive nicht wünschenswert. Hast du noch weitere Empfeh­lungen, die du Verwal­tungen oder insti­tu­tio­nellen Eigentümer:innen abgeben würdest?

Es ist wichtig, das Bewusstsein für die Lebens­rea­lität armuts­ge­fähr­deter Menschen zu schärfen. Sie haben oft wenig finan­zi­ellen Spielraum und stehen unter enormem Druck. Auch das Thema digitale Kompe­tenzen spielt eine Rolle, da viele Menschen Schwie­rig­keiten haben, sich in der digitalen Welt zurecht­zu­finden.

Was macht die Caritas konkret, um betroffene Menschen zu unter­stützen?

Wir bieten verschiedene Beratungs­an­gebote an, darunter „Wohnfit“, ein Programm, das Menschen bei der Wohnungs­suche unter­stützt. Es geht darum, die Menschen zu befähigen und ihnen zu helfen, sich auf dem Wohnungs­markt besser zurecht­zu­finden. Zusätzlich gibt es die Familien- und Sozial­be­ratung, in der das Thema Wohnen ebenfalls eine grosse Rolle spielt. Ausserdem haben wir den „Digi Treff“, ein Programm, das Menschen hilft, ihre digitalen Kompe­tenzen zu verbessern – was besonders bei der Wohnungs­suche nützlich ist.

Was sind die Erfolgs­fak­toren bei sozialen Wohnbau­pro­grammen und staat­lichen Unter­stüt­zungs­mass­nahmen?

Die Stadt Zürich hat sich das Ziel gesetzt, bis 2050 ein Drittel der Mietwoh­nungen gemein­nützig zu gestalten. Das ist eine sehr gute Vorgabe, aber die Umsetzung ist schwierig. Ich denke, die meisten Akteur:innen haben das Problem erkannt, doch die Unter­stützung verläuft eher schleppend. Aktuell setzt man stark auf Subjekt­för­derung, wie zum Beispiel Mietzins­zu­lagen, weil diese leichter umsetzbar sind. Diese entlasten zwar das Budget der Betrof­fenen, lösen aber nicht das grund­le­gende Problem der überteu­erten Wohnungen und des Wohnungs­mangels. Deshalb sollte meiner Meinung nach mehr in eine nachhaltige Objekt­för­derung inves­tiert werden.

Es wird auch immer wichtiger, armuts­ge­fähr­deter Menschen in die Debatte einzu­be­ziehen. Je schwie­riger die Wohnsi­tuation für breite Bevöl­ke­rungs­gruppen wird, desto grösser ist das Risiko, dass Menschen mit sehr wenig Geld in Verges­senheit geraten.

Was siehst du als langfristige Lösung für die Verfüg­barkeit von bezahl­barem Wohnraum?

Langfristig ist es wichtig, den gemein­nüt­zigen Wohnungsbau zu fördern. Ausserdem sollten Gemeinden die Möglichkeit haben, Land zu erwerben und dieses für bezahl­baren Wohnraum zu nutzen. Auch eine intel­li­gentere Nutzung von Leerständen wäre sinnvoll. Darüber hinaus könnte man Genos­sen­schaften günstige Darlehen anbieten, um den Bau von bezahl­baren Wohnungen zu erleichtern. Ich denke auch, man könnte durchaus darüber nachdenken, bestimmte Ausbau­stan­dards zu lockern. So könnte man trotzdem quali­tativ guten Wohnraum schaffen, der jedoch weniger teuer ist.

Was motiviert dich persönlich bei deiner Arbeit bei der Caritas Zürich?

In der Schweiz ist es ein grosses Tabu, über Geld zu sprechen – sowohl über zu viel als auch über zu wenig Geld. Deshalb ist es umso wichtiger, für die Reali­täten von Menschen mit wenig Geld zu sensi­bi­li­sieren. Ich habe nicht den Eindruck, dass armuts­ge­fährdete Menschen in der Öffent­lichkeit oder der Politik eine Lobby haben. Genau deshalb sind Organi­sa­tionen wie Caritas oder Caritas Zürich so wichtig. Meine persön­liche Motivation ist, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können und wir in einer solida­ri­schen Gesell­schaft leben, in der alle genug zum Leben haben. Das treibt mich an, in diesem Bereich zu arbeiten.

Welche Botschaft möchtest du der Öffent­lichkeit über die Lebens­rea­lität armuts­ge­fähr­deter Menschen mitgeben?

Oft wird das Bild vermittelt, dass armuts­ge­fährdete Menschen auf der faulen Haut liegen und selbst Schuld sind an ihrer Lage. Das stimmt aber nicht. Viele dieser Menschen leisten unglaublich viel, jonglieren mehrere Jobs, kümmern sich um Kinder oder ältere Angehörige und haben trotzdem kaum Spielraum. Es ist ein Hochleis­tungsjob, den diese Menschen tagtäglich bewäl­tigen.