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Schweizer Geburtenrate auf historischem Tiefstand: Beleuchtung der Ursachen und Folgen dieses demografischen Phänomens

10. Juli 2024

Wie viele andere Länder weltweit verzeichnet auch die Schweiz derzeit einen starken Rückgang der Geburtenzahlen. Dieses Phänomen lässt sich durch verschiedene Faktoren erklären: Individualisierung, wirtschaftliche Kosten, Wohnungskrise, Öko-Angst und sich verändernde Werte und Lebensweisen. Eine niedrige Geburtenrate kann grosse Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber auch auf den Immobilienmarkt haben. In diesem Artikel werfen wir einen Blick auf die Geburtenentwicklung in der Schweiz und versuchen, die Ursachen und möglichen Folgen des Rückgangs zu entschlüsseln.

Starker Rückgang der Geburtenrate im Jahr 2023

Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat kürzlich die endgültigen Zahlen zu den natürlichen Bevölkerungsbewegungen in der Schweiz für das Jahr 2023 veröffentlicht. Daraus geht hervor, dass die Geburtenzahl im letzten Jahr erneut stark gesunken ist und einen historischen Tiefstand erreicht hat. Die Zahl der Lebendgeburten in der Schweiz ist nämlich zwischen 2021 und 2023 um mehr als 10% auf 80’024 Geburten im Jahr 2023 zurückgegangen. Nach Abzug der Zahl der Todesfälle betrug das natürliche Bevölkerungswachstum im vergangenen Jahr nur 8’200 Personen, was etwa der Hälfte des Durchschnitts der vorangegangenen zehn Jahre (17’700) entspricht. Die zusammengefasste Geburtenziffer (d.h. die durchschnittliche Anzahl Kinder, die eine Frau im Laufe ihres Lebens zur Welt bringen würde, auf der Grundlage der beobachteten Fertilität jeder Altersklasse im betreffenden Jahr) erreichte 1.33. Ein so geringer Wert wurde in der Schweiz noch nie zuvor verzeichnet.

Der Rückgang der Geburtenrate ist kein spezifisch schweizerisches Phänomen. Derselbe Trend hat sich in letzter Zeit in vielen Ländern weltweit gezeigt. Die USA, Frankreich, Deutschland, Italien und Spanien beispielsweise haben im Jahr 2023 alle historisch niedrige Geburtenraten gemeldet. Und das Phänomen betrifft nicht nur hochentwickelte Länder: Auch China und Indien verzeichneten einen Rückgang der Geburten.

Geburtenentwicklung: detaillierte Analyse

Eine genauere Analyse der Geburtenzahlen offenbart interessante Erkenntnisse. Zunächst einmal betrifft der Rückgang der Geburten sowohl Kinder mit schweizerischer als auch mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Im Jahr 2023 sank die Zahl der Geburten von Schweizer Kindern um 8% im Vergleich zum Durchschnitt der letzten zehn Jahre. Bei Kindern mit ausländischer Staatsangehörigkeit war der Rückgang mit 5% etwas weniger stark ausgeprägt.

Es zeigt sich auch, dass immer mehr Familien auf ein drittes Kind verzichten. Während die Geburten des ersten und zweiten Kindes im Vergleich zum Durchschnitt der letzten zehn Jahre um etwa 7% zurückgingen, betrug der Rückgang bei den Geburten eines dritten Kindes mehr als 11%.

Es stellt sich die Frage, ob der Rückgang der Geburten darauf hinweist, dass Paare generell häufiger auf Kinder verzichten, oder ob es sich eher um eine Verzögerung der Familienplanung handelt. In diesem Zusammenhang ist es interessant, die Zahl der Geburten in Abhängigkeit vom Alter der Mutter zu betrachten. Relativ gesehen fand der stärkste Rückgang der Geburten bei Teenagern und Frauen unter 25 Jahren statt, mit einem Rückgang von mehr als 30%. Frauen über 45 Jahren hingegen haben mehr Babys zur Welt gebracht, aber dieser Anstieg ist nur relativ gesehen wichtig, da die Gesamtzahl der Geburten in dieser Altersgruppe gering bleibt. Absolut gesehen verzeichnete die Altersgruppe der 25-29-Jährigen den stärksten Rückgang der Geburten, während bei den 35-44-Jährigen eine leichte Zunahme zu beobachten war. Dies deutet darauf hin, dass es sich in einigen Fällen um eine Verschiebung der Familiengründung handelt und nicht um einen generellen Verzicht auf Kinder, was sich auch in der Erhöhung des durchschnittlichen Mütteralters widerspiegelt. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass in den kommenden Jahren eine leichte Erholung stattfinden wird.

Der Geburtenrückgang betrifft die grosse Mehrheit der Schweizer Kantone. Einzig der Kanton Uri bildet eine Ausnahme. Da aber die Zahl der Geburten dort sehr klein ist (zwischen 300 und 400 Babys pro Jahr), fällt der Anstieg nur wenig ins Gewicht. Besonders ausgeprägt ist der Rückgang hingegen in anderen ländlichen Kantonen und in Kantonen mit alternder Bevölkerung, wie Glarus und den beiden Appenzell. Aber auch junge und städtische Kantone wie Genf und Zürich verzeichnen einen überdurchschnittlich starken Rückgang der Geburten. In diesen Gebieten könnten der Rückgang teilweise durch die hohen wirtschaftlichen Kosten der Kindererziehung und der Verschärfung der Wohnungsknappheit begründet sein.

Was sind mögliche Gründe für den Rückgang der Geburten?

Die Ursachen des Geburtenrückgangs sind vielschichtig und komplex:

  • Individualisierung und Abkehr von traditionellen Familienmodellen: Die Suche nach Sinn ausserhalb der Elternschaft, wie ihn beispielsweise die Bewegung „child-free“ propagiert, hat in letzter Zeit in den Medien an Sichtbarkeit gewonnen.
  • Hohe wirtschaftliche Kosten: Der Bedarf an mehr Wohnraum und grösserem Familienauto, mehr Kinderbetreuung, höhere Versicherungskosten sind nur einige Beispiele. Die Kosten steigen mit der Geburt eines Kindes stark an. Das Amt für Kinder und Jugendliche Zürich schätzt die Gesamtkosten eines Kindes bis zu seinem 20. Lebensjahr auf 370'000 Franken.
  • Opportunitätskosten: Neben den direkten Kosten für die Erziehung eines Kindes gibt es auch erhebliche indirekte Kosten in Form von Einkommensverlusten. Oft muss ein Elternteil berufliche Zugeständnisse machen, um sich um die Kinder zu kümmern, sei es durch Reduzierung der Arbeitszeit oder durch Verzicht auf eine verantwortungsvolle Position. Und es sind immer noch überwiegend die Frauen, die diese Anpassungen vornehmen. In der Schweiz arbeiten 80% der Mütter von Kindern unter 15 Jahren Teilzeit, verglichen mit nur 13% der Väter. Dies beeinträchtigt ihre Karriereperspektiven (29% der Väter haben eine Führungsposition gegenüber nur 15% der Mütter) und langfristig auch ihre Renten. Ein erhöhtes Bewusstsein für dieses Problem kann die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, negativ beeinflussen.
  • Wohnungskrise: Die Knappheit an Mietwohnungen und teure Mieten behindern die Familiengründung ebenfalls. Darüber hinaus ist Wohneigentum, ein Garant für Stabilität, für die Mehrheit der Paare im gebärfähigen Alter unerschwinglich.
  • Geopolitische Unsicherheiten und Öko-Angst: Sorgen um die Zukunft und ökologische Überlegungen können Paare dazu veranlassen, auf zusätzliche Kinder zu verzichten.
  • Familienpolitik: Die Schweiz verfügt im internationalen Vergleich nicht über eine besonders grosszügige Familienpolitik. Andere Länder, wie beispielsweise Frankreich, fördern Geburten durch Subventionen und staatlichen Kinderbetreuungsmöglichkeiten stärker. Trotzdem verzeichnet auch Frankreich einen Rückgang der Geburten, wenn auch die Geburtenrate dort mit 1,7 Kindern pro Frau im Jahr 2023 deutlich höher bleibt als in der Schweiz.
  • Scheidungen und Trennungen: Die hohe Rate an Trennungen und Scheidungen in der Schweiz kann Personen davon abhalten, eine Familie zu gründen.

Welche Auswirkungen könnte der aktuelle Geburtenrückgang haben?

Ein Rückgang der Geburtenrate hat erhebliche Auswirkungen auf die Demografie und die Wirtschaft eines Landes. Der Arbeitskräftemangel und die Schwierigkeit, die in den Ruhestand gehenden Arbeitnehmer zu ersetzen, sind in der Schweiz bereits eine Realität, und dieses Phänomen könnte sich noch weiter verschärfen. Die steigende Lebenserwartung und der Rückgang der Geburten können zukünftig zu tiefgreifenden Ungleichgewichten in den Sozialversicherungen führen. Die Schweiz könnte daher verstärkt auf Zuwanderung angewiesen sein, um ihre demografischen Ressourcen aufzufüllen. Aber da in vielen Ländern die Geburtenrate sinkt und die Bevölkerung altert, könnte es in Zukunft schwieriger werden Arbeitskräfte aus dem Ausland anzuziehen. Dies gilt besonders für die Nachbarländer, aus denen viele der zugewanderten Arbeitskräfte stammen.


Der Rückgang der Geburten könnte auch die Immobilienmärkte auf verschiedene Weise beeinflussen:

  • Die durchschnittliche Haushaltsgrösse könnte weiter sinken und die Nachfrage nach kleineren Wohnungen könnte dadurch steigen. Insbesondere kleine, aber zentral gelegene und zugängliche Wohnungen könnten gefragter werden, während geräumige, aber abgelegene Häuser an Attraktivität verlieren und häufiger leer stehen könnten.
  • Der Bedarf an öffentlichen Infrastrukturen, wie beispielsweise Schulen, könnte sich reduzieren, was eine Planungsanpassung seitens der Gemeinden erfordern würde. Die steigende Studienzeit könnte diesen Effekt jedoch teilweise ausgleichen und zu einem erhöhten Bedarf an Hochschulen führen.
  • Der Rückgang der Geburtenrate könnte die öffentlichen Akteure möglicherweise dazu veranlassen, familienfördernde Massnahmen zu ergreifen, wie z.B. den Ausbau von Kinderbetreuungslösungen. Dadurch könnte der Bedarf an Räumlichkeiten für Vorschulkinder steigen. Ein Beispiel in diese Richtung ist die Volksinitiative «Für eine gute und bezahlbare familienergänzende Kinderbetreuung für alle (Kita-Initiative)», die im Juli 2023 eingereicht wurde und Kindern in der ganzen Schweiz den gleichen Zugang zu einer qualitativ hochstehenden und erschwinglichen (Kosten für die Eltern nicht mehr als 10% des Familieneinkommens) Betreuungslösung garantieren will.

Ist ein Wiederanstieg der Geburten im Jahr 2024 wahrscheinlich?

Die ersten Zahlen zu den Geburten in der Schweiz im Jahr 2024 lassen keinen Trendwechsel erwarten. Tatsächlich wurden zwischen Januar und April 2024 nur 24'300 Babys geboren, eine Zahl, die im Vergleich zu 2023 (24'400) stabil ist. Es ist daher wahrscheinlich, dass sich die Geburten im aktuellen Jahr auf diesem niedrigeren Niveau stabilisieren werden.

Weitere Informationen
Wüest Partner verfügt über ein Bevölkerungsprognosemodell, das für jede Gemeinde der Schweiz, aufgeteilt nach Geschlecht, Nationalität und Alter die zukünftige Anzahl Bewohner bis 2050 vorhersagt. Diese kann beispielsweise als Grundlage für Schulraumplanungen oder zur Abschätzung der zukünftigen Nachfrage nach Kinder- und Altersbetreuung oder Gesundheitsdienstleistungen eingesetzt werden. Das Modell berücksichtigt die jüngsten Entwicklungen in der Geburtenrate, welche für die Abschätzung des zukünftigen Schulraumbedarfs eine hohe Wichtigkeit hat.

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