Das internationale Genf: Herausforderungen und Chancen für einen Standort im Wandel
Veröffentlicht am: 05. August 2025 Letzte Aktualisierung: 06. August 2025

Genf gilt als zentraler Standort der internationalen Zusammenarbeit – gekennzeichnet von Neutralität, Stabilität und gut ausgebauter Infrastruktur. Doch dieser Status gerät zunehmend unter Druck. Globale Machtverschiebungen und strukturelle Veränderungen in multilateralen Institutionen führen zu wachsender Unsicherheit.
Ein möglicher Rückzug der USA als grösster staatlicher UN-Beitragszahler – aktuell rund 28 % – wäre ein tiefer Einschnitt. Die Folgen: Budgetkürzungen, Reorganisationen und Standortentscheide, die sich direkt auf Beschäftigung und Immobilienbedarf in Genf auswirken würden. Was lange als gegeben galt, muss nun strategisch neu bewertet werden.
Eine kritische Masse – mit starkem lokalen Fussabdruck
Bis anhin ist die Präsenz der internationalen Organisationen in Genf bedeutend:
- Rund 36’000 Angestellte waren 2023 bei internationalen, nicht-kommerziellen Organisationen beschäftigt – ein Wachstum von +6.5% gegenüber 2019, das unter anderem durch die gestiegene Bedeutung der WHO während der Pandemie bedingt sein dürfte.
- 2019 lebten 56’500 Personen, die direkt mit diesen Strukturen verbunden sind, in der Schweiz und Frankreich, wovon gut die Hälfte auf den Kanton Genf (29’366 Personen) und 28% auf die Stadt Genf (15’812 Personen) entfiel – das entspricht knapp 8% der Einwohner in der Stadt Genf.
Die Haushaltskürzungen – insbesondere durch die USA (Rückzug aus der WHO und dem Pariser Abkommen, Einfrieren der internationalen Hilfsgelder über USAID) – zwingen zahlreiche Organisationen dazu, ihre Modelle zu überdenken und sich neu zu strukturieren.
Hinzu kommen die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung. Mit den Erfahrungen von Homeoffice während der Pandemie und einem zunehmenden internationalen Kostendruck stellt sich die Frage: Ist Genf – das sowohl bei Büromieten als auch bei Lebenshaltungskosten regelmässig zu den teuersten Standorten gehört – noch der geeignete Ort für diese Strukturen? Und falls sich internationale Organisationen tatsächlich aus Genf zurückziehen sollten – welche Auswirkungen hätte das auf den Genfer Wohn- und Büromarkt? Um dies zu modellieren, haben wir drei Szenarien entwickelt, in denen von einem Rückgang der Beschäftigtenzahlen um 20%, 50% bzw. 100% (vollständiger Wegzug der internationalen Organisationen) in einem statischen Modell ausgegangen wird. Die Szenarien sind als Hilfsmittel zu verstehen, um abzuschätzen, welche Auswirkungen auf den Markt zu erwarten sind. Es wird keine Aussage zu ihrer Wahrscheinlichkeit gemacht. Das Modell ist zudem statisch: Es wird jeweils der letzte Stand (2025/1) des Angebots auf dem Markt und Immobilienpark verwendet und die Anzahl Wohnungen / Büroflächen nach Szenario dazugerechnet, ohne eine zeitliche Staffelung zu berücksichtigen.
Wohnmarkt: Internationale Nachfrage trifft lokale Knappheit
Internationale Organisationen haben einen erheblichen Einfluss auf den Wohnungsmarkt in der Region Genf. Nach unseren Schätzungen werden derzeit rund 9’500 Wohnungen im Kanton Genf von internationalen Mitarbeitenden bewohnt – vor allem grössere Objekte mit vier bis sechs oder mehr Zimmern.
Diese Haushalte zeichnen sich durch eine hohe Zahlungsbereitschaft aus –einer Umfrage unter den Angestellten zufolge zahlen sie bis zu doppelt so viel Miete wie vergleichbare Haushalte in der Region.
Diese überdurchschnittlichen Mietpreise lassen sich durch mehrere Faktoren erklären:
- Höheres Einkommen und Subventionen ermöglichen eine grössere Zahlungsbereitschaft.
- Die Nachfrage konzentriert sich häufig auf möblierte Wohnungen, die in der Regel teurer sind.
- Die von internationalen Mitarbeitenden gezahlte Miete entspricht in vielen Fällen der Angebotsmiete – diese liegt in Genf meist deutlich über den effektiven Vertragsmieten. Das liegt zum einen daran, dass internationale Mitarbeitende im Durchschnitt kürzer in ihrer Mietwohnung bleiben als lokale Haushalte – je länger die Mietdauer, desto tiefer ist in der Regel der tatsächlich gezahlte Mietzins im Verhältnis zum aktuellen Marktpreis.
- Zum anderen fehlt es vielen internationalen Mitarbeitenden an lokalen Netzwerken und Marktkenntnis. Dadurch haben sie oft erschwerten Zugang zu günstigeren Wohnungen, die in Genf nicht selten «unter der Hand» vergeben werden.
Zentrale Erkenntnisse:
- Die Leerstandsquote liegt im Kanton und in der Stadt Genf seit über einem Jahrzehnt unter der als optimal geltenden Schwelle von 0.75% – ein klares Zeichen für eine ausgeprägte Wohnungsknappheit.
- Ein Rückgang von 20% der Beschäftigten internationaler Organisationen würde zu einem Anstieg der Angebotsquote um rund +0.9% führen (diese umfasst sowohl Leerwohnungen als auch bereits gekündigte, aber noch bewohnte Wohnungen). Die Auswirkungen auf die eigentliche Leerstandsquote dürften jedoch gering ausfallen, da die hohe Nachfrage nach Wohnraum in Genf dazu führt, dass solche Wohnungen rasch von lokalen Haushalten übernommen werden – insbesondere von solchen, die bisher in weniger geeigneten Wohnverhältnissen leben. In der weiteren Agglomeration wären hingegen Sekundäreffekte denkbar.
- Ein Nachfragerückgang würde sich vorrangig auf den hochpreisigen, möblierten Wohnungsmarkt auswirken.
- Die Auswirkungen auf das Mietniveau wären differenziert zu betrachten: Einerseits könnte ein grösseres Angebot die Marktdynamik etwas entspannen, andererseits würden vor allem teurere Wohnungen auf den Markt kommen, was das durchschnittliche Mietniveau der verfügbaren Angebote eher ansteigen lassen könnte.
Büromarkt : Robustheit könnte ins Wanken kommen
Der Genfer Büromarkt präsentiert sich insgesamt stabil – mit lokalen Unterschieden. Während wir im Zentrum von Genf einen attraktiven Markt mit steigenden Flächenpreisen beobachten, sind die Mietpreise in periphereren Lagen, insbesondere gerade in Richtung Flughafen stärker unter Druck.
Besonders im Grand-Saconnex wurden in den letzten zehn Jahren rund 55’000 m² neue Büroflächen realisiert, Pregny-Chambésy folgte mit rund 31’000 m², stark getrieben durch den Ausbau der WHO. Trotz temporär hoher Angebotsquoten konnten viele Flächen dort vor einem Leerstand vermietet werden, was auf eine gute Marktabsorption hindeutet (Leerstandsquoten zwischen 3 – 7%).
Zur Beurteilung der Auswirkungen eines potenziellen Rückgangs wurde mit folgender Berechnungsgrundlage gearbeitet:
- 36’000 Beschäftigte bei internationalen Organisationen (Stand 2023)
- Schätzung durchschnittlicher Büroflächenbedarf: 22.5 m² pro Person
- Daraus ergibt sich ein aktueller Bedarf von ca. 650’000 m² Nettobürofläche
Kernerkenntnisse:
Ein Rückgang der Arbeitsplätze und des Flächenbedarfs, verteilt auf die drei betroffenen Gemeinden, hätte erhebliche Auswirkungen auf das Büroangebot. Würden 20 % der Beschäftigten internationaler Organisationen die Region verlassen, könnte die Leerstandsquote um etwa 3 Prozentpunkte auf 10.3% steigen. Bei einem vollständigen Wegzug dieser Organisationen könnte der Anstieg mehr als 16 Prozentpunkte betragen, was (zumindest vorübergehend) zu einem erheblichen Überangebot führen würde. In den Gemeinden Grand-Saconnex und Pregny-Chambésy sowie in der unmittelbaren Umgebung des Jardin des Nations in Genf wären die Auswirkungen lokal noch stärker zu spüren.
Spannend ist auch der Vergleich der Fläche, die bei einem vollständigen Rückzug internationaler Organisationen frei würde. Das Quartier Jardin des Nations entspricht in seiner Ausdehnung:
- der Fläche des Central Park in New York (1×),
- dem doppelten des Projekts Praille Acacias Vernets (PAV) in Genf (2×),
- und dem dreifachen des Europa-Parks in Rust (3×).
Hotel- und Konferenzmarkt: ein florierender, aber verletzlicher Sektor
Sitzungen und persönlicher Austausch gehören zu den zentralen Aktivitäten internationaler Organisationen. Jährlich finden in Genf rund 2’500 Konferenzen statt, an denen insgesamt nahezu 200’000 Delegierte und Expertinnen bzw. Experten teilnehmen – ein wesentlicher Pfeiler der internationalen Präsenz vor Ort.
Der Hotelmarkt hat sich nach der Pandemie deutlich erholt, mit steigenden Preisen und einer zunehmenden Auslastung. Wir schätzen, dass rund 250’000 Übernachtungen pro Jahr direkt mit internationalen Organisationen in Verbindung stehen – das entspricht einem Verhältnis von etwa 1.25 Übernachtungen pro Delegiertem bzw. Experten und stellt somit eine eher vorsichtige Schätzung dar.
Im Falle eines vollständigen Wegzugs dieser Organisationen könnte die Auslastung der Hotels in der Stadt Genf um bis zu 10% sinken – ohne dabei die zusätzlichen Effekte auf die Attraktivität Genfs als Standort und auf den allgemeinen Tourismus zu berücksichtigen.
Fazit: Das internationale Genf: Unter Druck – und vor einer Chance
Globale Machtverschiebungen, digitale Transformation und finanzielle Unsicherheiten stellen das internationale Genf vor neue Herausforderungen – und eröffnen zugleich Möglichkeiten zur Neuausrichtung. Wie bereits zu Beginn der 2000er-Jahre, als ein US-Finanzierungsstopp strukturelle Veränderungen erzwang, gilt auch heute: Die Resilienz liegt in der Anpassungsfähigkeit.
Strategische Leitlinien für eine zukunftsfähige Entwicklung
- Genfs Stärken gezielt schärfen
Ein einzigartiges Ökosystem aus internationalen Organisationen, hoher Lebensqualität und institutioneller Stabilität spricht weiterhin für Genf. Gleichzeitig gilt es, strategisch auf Herausforderungen wie Bodenknappheit, hohe Grundstückspreise und hohe Lebenshaltungskosten zu reagieren. - Transformation mit zwei Hebeln vorantreiben:
- Neue Geschäftsmodelle entwickeln: Diversifizierung von Finanzierung und Leistungen – durch hybride Formate, digitale Plattformen und lokal verankerte Partnerschaften.
- Immobilien intelligent und flexibel nutzen: Unterausgelastete Flächen neu denken – modular, nutzerzentriert und anpassungsfähig. Voraussetzung dafür ist nicht nur räumliche, sondern auch organisatorische Agilität. - Synergien im Raum gezielt nutzen
Wandel von klassischen Büros hin zu Orten des Wissens, der Begegnung und Innovation. Konferenz‑, Hotel- und Coworking-Infrastrukturen sollten stärker integriert geplant und genutzt werden. - Planung flexibilisieren
Stadtentwicklung muss reaktionsfähig und anpassbar sein – mit visionären Konzepten, die Reversibilität und Nutzerorientierung ermöglichen, statt starrer Vorgaben.
Lesen Sie mehr über die kurz- und langfristigen Perspektiven des Schweizer Wohnungsmarktes im Immo-Monitoring.
Quellenverzeichnis:
Fondation pour Genève: Enquête Genève internationale (2023), geneve-int.ch/de/konferenz-infrastruktur, Office cantonal de la statistique (OCSTAT), Bundesamt für Statistik (BFS) – Gebäude- und Wohnungsstatistik, swissinfo.ch, UN System Chief Executives Board for Coordination