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Erdbebensicherheit von Gebäuden – Was man als Eigentümer wissen muss

02. März 2021

Erbebensicherheit

Dass Erdbeben grossen Schaden anrichten können, ist bereits seit Langem bekannt. Die Erkenntnis, dass die von Erdbeben ausgehende Gefahr in der Schweiz aber unterschätzt wurde, hat sich aber erst in der jüngsten Vergangenheit durchgesetzt. In der Folge wurden in den letzten Jahren die Anforderungen an die Gebäudetragwerke in Bezug auf Erdbebensicherheit massiv erhöht. Auf was haben Eigentümer nun besonders zu achten?

Gebäudeeigentümer haften für Schäden an Gütern und Personen

Bei der Entwicklung von Neubauten sind die beteiligten Fachplaner, Architekten und Bauunternehmen gemäss Art. 364/398 OR dazu verpflichtet, den Bauherrn fachlich zu unterstützen und die «anerkannten Regeln der Technik» vollumfänglich einzuhalten [7]. Als Fachleute haften sie gegenüber dem Bauherrn für diese Einhaltung.

«Das sorgfältige und vollumfängliche Einhalten der SIA-Normen vermeidet rechtliche Probleme und entsprechende Schwierigkeiten für alle Beteiligten!» (Zitat aus [5])

Nach Fertigstellung geht die Haftung für die Aufrechterhaltung der Normenkonformität auf den Bauherrn über. Die Eigentümer sind generell für den fachgerechten Erhalt der Gebäudetragwerke verantwortlich. Entsprechend haften sie gemäss Art. 58 OR für Schäden, die durch ein mangelhaftes Bauwerk an Gütern und Personen entstehen (Werkeigentümerhaftung). Eigentümer sind dafür verantwortlich, dass der Entwicklung der Technik gefolgt wird und allenfalls Anpassungen an ihren Bauwerken vorgenommen werden, damit diese den neuesten Sicherheitsanforderungen entsprechen.

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Eine Überprüfung des bestehenden Tragwerks muss gemäss SIA 269 (Erhaltung von Tragwerken) bei Umbauten, einer Änderung der Nutzung oder der Nutzungsanforderungen sowie dann, wenn eine neue Erkenntnis über Einwirkungen oder Tragwerkseigenschaften vorliegt (z.B. Anpassungen in den Normen), vorgenommen werden. Entsprechend können bis dato normenkonforme Gebäude bei solchen Änderungen über die Zeit mangelhaft werden. Beispielsweise führten Erkenntnisse aus dem Garagendacheinsturz in Gretzenbach im Jahr 2004 dazu, dass Einstellhallen schweizweit auf Durchstanzsicherheit überprüft und gegebenenfalls ertüchtigt werden mussten.

Erdbebensicherheit in der Schweiz

In der Schweiz stellt das Erdbebenrisiko das bedeutendste Risiko aus Naturgefahren dar [5]. Dass die von Erdbeben ausgehende Gefahr nicht immer derart eingestuft wurde, zeigt eine Analyse der Entwicklung der Tragwerksanforderungen an die Erdbebensicherheit der vergangenen Jahrzehnte: Im Jahre 1970 wurden die ersten Erdbebenbestimmungen in das Schweizer Normenwerk aufgenommen. Mit dem Fortschritt der Technik sowie der Wissenschaft wurden die Anforderungen in den Normenrevisionen stark angehoben, sodass die Anforderungen an die Bemessungseinwirkung heute rund zehnmal so hoch sind wie noch im Jahr 1970 (folgende Abbildung).

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Trotz der Erkenntnisse, dass Erdbeben grosse Schäden anrichten können, werden die SIA-Bestimmungen zur Erdbebensicherheit in der Praxis, insbesondere bei privaten Bauten, oft nicht genügend eingehalten [7]. Dies ist unter anderem auf die kantonal unterschiedlichen, erdbebenspezifischen Auflagen zurückzuführen. Nur in wenigen Kantonen gibt es erdbebenspezifische Auflagen im Rahmen des Baubewilligungsverfahrens (nächste Abbildung).

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Wann ist ein Gebäude mangelhaft?

Für die statische Überprüfung von Tragwerken bezüglich Erdbeben wird nach dem heutigen Stand ein sogenanntes «Bemessungserdbeben» herangezogen. Für Gebäude herkömmlicher Schutzwürdigkeit (Bauwerkklasse I), zu welchen auch Wohnbauten und herkömmliche Bürogebäude zählen, entspricht dieses Bemessungserdbeben einem Erdbebenereignis, das an einem bestimmten Standort statistisch gesehen einmal in 500 Jahren zu erwarten ist. Dabei gilt, dass Gebäude, die als «erdbebensicher» kategorisiert werden, im Falle des Eintritts eines Bemessungserdbebens nicht einstürzen und noch evakuiert werden können. Starke Schäden bis hin zur gänzlichen Unbrauchbarkeit der Strukturen werden gemäss den heutigen Normen hingegen in Kauf genommen.

«Gebäude der Bauwerkklasse I werden auf ein Bemessungserdbeben ausgelegt, welches statistisch gesehen einmal in 500 Jahren auftritt. Kernkraftwerke werden hingegen auf ein Bemessungserdbeben ausgelegt, welches statistisch gesehen einmal alle 10’000 Jahre eintritt.»

Bei der statischen Prüfung eines Tragwerks bezüglich Erdbebensicherheit, wird der sogenannte Erfüllungsfaktor «α» ermittelt. Dieser stellt das Verhältnis von Bemessungseinwirkung und Tragwerkswiderstand dar. Ein Erfüllungsfaktor von 1.0 (und höher) bedeutet somit, dass das Tragwerk den aktuellen Normvorgaben entspricht (oder diese übersteigt).

Bei Bestandsbauten, die nicht nach der aktuellen Norm bemessen wurden, ist dies nur sehr selten der Fall. Als effektiv mangelhaft werden Tragwerke jedoch erst dann eingestuft, wenn sie einen Schwellenwert «αmin» unterschreiten. Diese Gebäude erfüllen die Mindestanforderungen an die Personensicherheit unter Erdbebeneinwirkungen gemäss geltender Baunormen nicht und müssen somit sofort ertüchtigt werden. Im Gegensatz dazu sind bei einem «ungenügenden» Gebäude die Mindestanforderungen an die Personensicherheit erfüllt, die Normenkonformität jedoch nicht gewährleistet. Diese Gebäude können im Rahmen des regulären Erneuerungszyklus ertüchtigt werden, sofern eine systematische Erfassung und Priorisierung innerhalb des Portfolios stattfinden.

Die Norm 269/8 legt den Schwellenwert «αmin» je nach Gebäudetyp fest. Gebäude mit herkömmlicher Schutzwürdigkeit, wie z.B. herkömmliche Büro- oder Wohnbauten, müssen einen Erfüllungsfaktor von «αmin» = 0.25, Gebäude mit höherer Schutzwürdigkeit, wie z.B. Schulen oder Krankenhäuser, einen Erfüllungsfaktor von «αmin» = 0.40 erreichen, um nicht als mangelhaft zu gelten.

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Mit diesen Kosten muss gerechnet werden

Sollte die statische Analyse eines Tragwerks ergeben, dass die geltenden Normvorschriften nicht eingehalten werden, muss das Tragwerk – entweder sofort (wenn mangelhaft) oder beim nächsten Sanierungszyklus (wenn ungenügend) – ertüchtigt werden. Die Investitionen, die für Erdbebenertüchtigungen aufgebracht werden müssen, werden gem. SIA 269/8 abhängig von dem Erfüllungsfaktor und der durchschnittlichen Personenbelegung des Gebäudes (Nutzung) definiert. Es handelt sich dabei um die Investitionssumme, die in jedem Fall aufgebracht werden muss, welche jedoch auch das Kostenlimit, welches als «verhältnismässig» gilt, deckelt.

«Als verhältnismässig gelten Massnahmen bis 10 Millionen Franken und als zumutbar gelten Massnahmen bis 100 Millionen Franken pro gerettetem Menschenleben.» Zitat aus [6]

Generell ist das anzustrebende Ziel eine Annäherung an den Erfüllungsfaktor von α= 1.0. Bei bestehenden Gebäuden ist dies jedoch oft nur mittels unverhältnismässig grosser Investitionen möglich, weshalb für diese Fälle der höchstmögliche α-Wert unter Einhaltung des Kostenlimits angestrebt werden soll. In der folgenden Abbildung werden die Investitionsvorgaben nach SIA 269/8 exemplarisch für ein Gebäude mit 1’000 m2Nutzfläche für unterschiedliche Nutzungen und Erfüllungsgrade dargestellt. Es lässt sich erkennen, dass die notwendigen Investitionen mit abnehmenden Erfüllungsgraden stark zunehmen und ein beträchtliches Ausmass annehmen können.

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Mehrstufige, selektive Erfassung

Von Eigentümern grosser Gebäude-Portfolios wird verlangt, dass eine systematische Erfassung und Priorisierung der Gebäude bezüglich deren Erdbebensicherheit erfolgt. Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) hat für diesen Zweck im März 2020 einen neuen Leitfaden für ein stufenweises Verfahren zur Identifikation von kritischen Gebäuden innerhalb grosser Gebäudebestände herausgegeben [4]. Der Leitfaden sieht ein dreistufiges Vorgehen vor:

  1. In der ersten Stufe (Eingrenzung) wird das zu untersuchende Portfolio definiert und die Ziele sowie die Strategie der Eigentümer festgelegt.
  2. In der zweiten Stufe (Bewertung) werden für die ausgewählten Gebäude mithilfe eines systematischen Erfassungsprozesses erste Kennzahlen ermittelt, anhand derer im Anschluss eine Priorisierung des Gebäudebestands erfolgen kann.
  3. In der dritten Stufe (Überprüfung) wird für die Gebäude mit höchster Priorität von einem Bauingenieur eine statische Überprüfung durchgeführt, bei welcher der Wert des Erfüllungsfaktors «α» hervorgeht. Zudem werden die erforderlichen Massnahmen eruiert und geplant.

Priorisierung von grossen Gebäudebeständen bei Wüest Partner

Wüest Partner bietet seinen Kunden eine Vielzahl an Dienstleistungen rund um das Thema Immobilien an. Dazu gehört auch die Auswertung von Immobilienportfolios bezüglich Erdbebensicherheit (Stufen 1 und 2 des oben beschriebenen mehrstufigen Verfahrens). Gerne informieren wir Sie bei Interesse darüber, wie wir Ihnen dabei behilflich sein können, Ihr Portfolio auf den richtigen Weg zu bringen. Unsere Fachspezialisten stehen Ihnen auch bei weiterführenden Fragen zum Thema Erdbebensicherheit beratend zur Seite.

Quellen

[1] Erdbebenrisiko grosser Gebäudebestände; Stufenweises Verfahren zur Identifizierung von kritischen Gebäuden; Bundesamt für Umwelt (BAFU); Bern, 2020

[2]  Norm SIA 269/8 (2017): Erhaltung von Tragwerken – Erdbeben, Schweizer Ingenieur- und Archi- tektenverein SIA; Zürich, 2017

[3]  Schweizerischer Erdbebendienst, http://www.seismo.ethz.ch/de/home/

[4] https://www.bafu.admin.ch/dam/bafu/de/dokumente/erdbeben/uw-umwelt-wissen/erdbebenrisiko-grosser-gebaeudebestaende.pdf.download.pdf/UW-2014-D_ErdbebenGebaeudebestaende.pdf

[5] Erdbebensicherheit von Gebäuden – Rechts- und Haftungsfragen; Stiftung baudyn; 2010

[6] Erdbebenertüchtigung von Bauwerken – Strategie und Beispiel- sammlung aus der Schweiz; Wenk T.; Umwelt-Wissen Nr. 0832, BAFU, Bern 2008

[7] Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Gebäudebeurteilung nach Erdbeben; Verfassungsgrundlagen, Notrecht, Haftung von Experten; Bundesamt für Bevölkerungsschutz BABS; Dezember 2014

[8] https://www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/naturgefahren/fachinformationen-erdbeben/schutz-vor-erdbeben/erdbebengerechtes-bauen/erdbebensicherheit–baugesetze-und-baubewilligungsverfahren.html