Weiter zum Ihnhalt

Kreislaufwirtschaft: Strategien im Umgang mit Bestandsbauten

07. September 2020

High Rise, Urban, Building

Wie die Bau- und Immobilienwirtschaft mit bestehenden Liegenschaften umgeht und wie damit die Kreislaufwirtschaft gestärkt werden kann, ist sehr bedeutsam für die Nachhaltigkeitsziele unserer Gesellschaft. Von den im Rahmen der Agenda 2030 vom Bund definierten 85 Indikatoren im Monitoring der nachhaltigen Entwicklung werden mehrere zentrale Pfeiler direkt durch den Umgang mit Bestandsbauten beeinflusst:

  • Verbesserung der Treibhausgasbilanz
  • Sparsamer Umgang mit Materialien
  • Senkung der Wohnkosten
  • Steigerung des Wohlstandes
  • Reduktion des Siedlungsflächenverbrauchs pro Person

Einige dieser Nachhaltigkeitsindikatoren lassen sich, trotz der vielen teilweise divergierenden Interessen der Bau- und Immobilienwirtschaft, gleichzeitig anstreben. Es treten aber auch Zielkonflikte auf. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Studie, die Wüest Partner im Auftrag des Bundeamtes für Umwelt (BAFU) ausgearbeitet hat, zum Ziel gesetzt, verschiedene Normstrategien im Umgang mit Bestandsbauten im Hinblick darauf zu evaluieren, wie die Erreichung möglichst vieler Nachhaltigkeitsziele am besten in Einklang gebracht werden kann.

Um eine hohe Repräsentativität zu gewährleisten, hat Wüest Partner für die Berechnungen der sechs Normstrategien ein typisches zweistöckiges Mehrfamilienhaus mit Baujahr 1970 aus einer Grossstadtagglomeration. Rund ein Zwölftel aller heute bestehenden Wohnungen befinden sich in Mehrfamilienhäusern aus den 1960er- oder 1970er-Jahren, die in der Agglomeration eines Grosszentrums stehen. Viele dieser Liegenschaften sind heute sanierungsbedürftig, und es stellt sich die Frage, welche der folgenden strategischen Optionen die passendste ist:

1. Fortführung ohne Eingriffe in die Bestandsbaute

2. Kleine energetische Sanierung

3. Grosse energetische Sanierung

4. Aufstockung von zwei auf vier Stockwerke

5. Ersatzneubau mit gleicher Ausnützung

6. Ersatzneubau mit doppelter Ausnützung

Evaluation der Normstrategien

Die Auswirkungen dieser sechs Normstrategien auf fünf wichtige Nachhaltigkeitsziele hat Wüest Partner umfassend ausgewertet. Es zeigt sich, dass in den meisten Fällen eine kleine energetische Sanierung diejenige Normstrategie ist, die der Vielzahl an Nachhaltigkeitszielen besonders gut gerecht wird. Die Mieter können in Fällen mit einem bedeutenden Rückgang der Heizkosten teilweise sogar von tieferen Wohnkosten profitieren, das zeigt eine aktuelle Studie (Wüest Partner, 2020). Zudem verbessert sich die CO2-Bilanz – einerseits durch den dämmungsbedingten tieferen Wärmebedarf und andererseits durch die Substitution fossiler Energie – um 30 Prozent im Vergleich mit der Option einer blossen Fortführung ohne Eingriffe. Diese Gegenüberstellung ist auf der linken Seite der ersten Abbildung mit den Netzdiagrammen aufgeführt.

Grafikbewertung

Auf der rechten Seite der Abbildung ist die Analyse der Ersatzneubauten abgebildet. Ersatzneubauten sind diejenigen Normstrategien, welche die durch den Betrieb einer Liegenschaft verursachten CO2-Emissionen am wirkungsvollsten verringert, weil damit die komplette Liegenschaft den neusten Energievorschriften entspricht. Damit sind Ersatzneubauten auch am besten vereinbar mit dem Ziel «Netto-Null Emissionen» bis 2050, vor allem wenn in Kombination mit einer Fotovoltaikanlage auch der Strombedarf bilanziell über das Jahr gedeckt wird. Heizung und Strom verursachen in 50 Jahren Betrieb nach der Ersatzneubaute sogar weniger CO2-Emissionen als die graue Treibhausgasemissionen, die durch die neu zu verbauenden Materialien verursacht werden. In einer umfassenden Betrachtung sind Ersatzneubauten aber nur dann wirklich nachhaltig, wenn damit gleichzeitig die Wohnfläche bzw. die Anzahl Wohnungen auf dem Areal signifikant erhöht wird. Wenn das der Fall ist, wird der bedeutende Materialeinsatz und der grosse Einsatz an grauen Treibhausgasemissionen durch den tieferen Pro-Kopf-Siedlungsflächenbedarf und die Reduktion der CO2-Emissionen im Betrieb aufgewogen.

CO2-Bilanz über den Lebenszyklus

Die folgende Abbildung zeigt die CO2-Bilanz der verschiedenen Normstrategien. Diese ergibt sich aus der Summe der Emissionen, welche einerseits im Betrieb durch den Bedarf an Wärme und Elektrizität entstehen und blau dargestellt sind. Andererseits gilt es die Emissionen zu berücksichtigen, welche auf den Materialeinsatz zurückzuführen sind und rot dargestellt sind. Ausgegangen wurde dabei von einer Gesamtlebensdauer der Immobilie von 100 Jahren. Die in der Vergangenheit (1970–2020) angefallenen CO2-Emissionen werden zwar nicht abgeschrieben, aber hell dargestellt, die künftig (bis 2070) anfallenden Emissionen sind dunkel eingefärbt.

Wird ein vor 50 Jahren erstelltes Mehrfamilienhaus nochmals 50 Jahre ohne nennenswerte Eingriffe betrieben, dann fällt der Treibhausgasausstoss in der Fortführung vor allem aus zwei Gründen sehr hoch aus: Erstens geht aufgrund der schlechten Isolation sehr viel Wärme verloren, und zweitens wird diese Wärme weiterhin mittels Verbrennung von fossilen Energieträgern erzeugt. Der Anteil der Baumaterialien ist in diesem Fall hingegen, über den ganzen Lebenszyklus betrachtet, für lediglich 9 Prozent der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich.

Grafiktreibhausgas

Erkenntnisse zur Kreislaufwirtschaft

Bei Neubauten verursachen die Materialien typischerweise mehr Treibhausgase als ein Betrieb mit erneuerbarer Energie in den kommenden 50 Jahren. Entsprechend bedeutsam für die CO2-Bilanz von Ersatzneubauten ist die Wahl der Baumaterialen. Wenn bereits einmal verwendete Materialen verbaut werden, dann schliesst sich der Kreislauf und vermindert die graue Treibhausgasemissionen. Bei Bestandesliegenschaften hingegen wird die CO2-Bilanz durch den Betrieb geprägt, wodurch der Energiequelle eine entscheidende Bedeutung zukommt. Das zeigt der deutliche Rückgang der Treibhausgase, der sich durch die Substitution der fossilen Wärmegewinnung bei einer energetischen Sanierung im Vergleich zur Fortführung ergibt.

Durch eine limitierte Eingriffstiefe in bestehende Gebäude und eine zurückhaltende Neubautätigkeit werden Materialien im Gebäudepark gehalten, und es wird relativ wenig Abfall produziert. Dies stärkt die Kreislaufwirtschaft, wie dies jüngst die Umweltkommission des Nationalrats gefordert hat (20.433). Die Keislaufwirtschaft besteht aus den vier Pfeilern «Reduce» (Reduzieren), «Reuse» (Wiederverwenden), «Repair» (Reparieren) und «Recycle» (Wiederverwerten).

Die Studie zeigt auf, wie die Stärkung der Pfeiler «Reduce» und «Reuse» dazu beiträgt, dass gleich mehrere Nachhaltigkeitsziele erreicht werden. Am besten gelingt dies, indem Bestandsbauten mit einem genau auf die jeweilige Situation angepassten Einsatz von Bauteilen zielgerichtet energetisch saniert werden. Gleichzeitig werden im Spannungsfeld zwischen Verdichtung und Umgang mit der grauen Energie sehr gute Resultate erreicht, wenn Ersatzneubauten dort erstellt werden, wo eine markante Verdichtung erreicht werden kann (z. B. eine Verdoppelung der Anzahl Wohnungen).

Potenzial zur Vertiefung der Kreislaufwirtschaft

Bei der Entwicklung des Netzdiagramms zur Evaluation von Normstrategien zeigte sich das Potenzial für zwei vielversprechende Vertiefungen. Erstens bietet sich eine methodisch geschickt gewählte und umfassende Analyse des Zusammenhangs zwischen der Nachhaltigkeit und dem Marktwert von Liegenschaften an.

Zweitens wurden hier idealtypische Normstrategien untersucht. Wünschenswert wäre die Bearbeitung von weiteren Varianten unter Berücksichtigung der konkreten Gegebenheiten einer Liegenschaft wie etwa das Potenzial zur Wiederverwertung von Baumaterialen. Gerade vor einer Festlegung einer Strategie für Bestandesbauten lohnt es sich, die Strategien auf verschiedene Dimensionen der Nachhaltigkeit zu testen. Dabei können die in dieser Studie erarbeiten Modelle eingesetzt werden.


Weitere Informationen

Hier geht es zur Studie.

Dieser Link führt auf die Webseite des BAFU